Freitag, 9. Oktober 2015

Ziviler Ungehorsam zur Durchsetzung liberaler Politik? (Buchbesprechung)

By the People: Rebuilding Liberty without Permission - so lautet der Titel des neuesten Buches von Charles Murray, eines amerikanischen Professors, der derzeit für den liberal-konservativen Think-Tank American Enterprise Institute arbeitet. Murray hat schon eine ganze Reihe politischer Bestseller veröffentlicht, darunter die Bell Curve, welche den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Klassenstruktur analysiert.

Murray diagnostiziert in seinem aktuellen Buch By the People korrekt, dass der "regulatorische Staat" seit Beginn des 20. Jahrhunderts völlig ausser Kontrolle geraten ist. Millionen von Seiten an Vorschriften regulieren jeden Aspekt des Lebens eines durchschnittlichen Amerikaners, sei es Zuhause, am Arbeitsplatz oder als Unternehmer. Eine Diagnose, die sicher auf Europa ganz genauso zutrifft. Es sind Behörden und Verwaltungsvorschriften, die oftmals kaum einer oder nur sehr eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegen, welche Bürgern und Firmen das Leben zur Hölle machen können. Die Politiker sind nicht willens oder nicht in der Lage, diese Welle an Bürokratie aufzuhalten oder gar zurückzudrängen. Zu viele Personen leben inzwischen direkt oder indirekt vom regulatorischen Staat, um diesen noch mittels des normalen politisch-parlamentarischen Prozesses zurückzubinden. Liberale, libertäre oder konservative Anti-Etatisten können selbst in den USA lediglich circa 10% der Abgeordneten auf ihrer Seite zählen. Eine Minderheit, die kaum legislative Schlagkraft entwickeln kann.

Daher schlägt Murray eine neue Strategie vor: Ziviler Ungehorsam gegen Vorschriften, die willkürlich und gegen den gesunden Menschenverstand gerichtet sind. Strategische Missachtung von Regularien, die Individuen und Unternehmer sinnlos gängeln. Murray möchte hier selektiv vorgehen: Natürlich müsse man sich an Gesetze halten, die sinnvoll das menschliche Zusammenleben regeln. Vorschriften gegen Mord, Raub, Diebstahl und Betrug etc. sind selbstverständlich weiter einzuhalten. Auch Steuern müssten bezahlt werden, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Boykotteure lediglich ihren monetären Vorteil suchen. Boykottiert werden sollen dagegen all die Vorschriften, die nichts positives erreichen, sondern nur den Bürger an der kurzen Leine führen. Als Beispiele nennt Murray Regeln, die den Zugang zu Berufen einschränken, deren Ausübung keine Gefahr für andere Personen darstellen kann. Weiterhin zählt er Regularien, die die freie Nutzung von Landeigentum einschränken dazu, aber auch Vorschriften die Personen davon abhalten Risiken für ihr eigenes Leben einzugehen, z.B. Verbote von Extremsport sowie einige weitere Vorschriftskategorien.

Seine wesentliche Prämisse ist, dass der regulatorische Staat nicht in der Lage ist, mit massenhaftem Boykott umzugehen. Personal und Ressourcen genügen nicht, um mit einer Flutwelle von kleinen Regelverletzungen umzugehen. Dazu kommt, dass Murray im nächsten Schritt die Gründung eines "legal defense funds" vorschlägt, der in jedem Einzelfall die Rechtsstreitigkeiten möglichst durch alle Instanzen übernimmt. Murray nennt diese Organisation den "Madison Fund", ein Name, der sich auf den amerikanischen Staatsmann und Mitautor der US-Verfassung James Madison bezieht. Neben der Unterstützung der Boykottbewegung in rechtlichen Fragen soll der Madison Fund die Öffentlichkeit suchen, um in der Bevölkerung um Unterstützung für die "Opfer der Bürokratie" zu werben.

Das Ziel dieser Strategie liegt darin, grosse Teile der bürokratischen Vorschriften, welche die amerikanische Gesellschaft lähmen, faktisch nicht mehr durchsetzbar zu machen. Langfristig soll damit massiver Druck in der politischen Klasse und im Rechtssystem aufgebaut werden, um Vorschriften abzubauen und die gesamte Gesellschaft zu entbürokratisieren. Eine breit abgestützte Boykottbewegung werde der ganzen Gesellschaft vor Augen führen, welch unsinnige und kontraproduktive Regularien die Gesellschaft im Würgegriff halten. Murray ist keinesfalls ein Gegner jegliche staatlicher Institutionen. Es geht im darum, den Staat und sein Vorschriftenwesen wieder auf die essentiellen Bereiche zurückzubinden, die für Sicherheit und Freiheit der amerikanischen Bürger erforderlich sind.

Murray ist davon überzeugt, dass seine Strategie zumindest Teilerfolge erzielen kann. Dies auch vor dem Hintergrund, dass übergreifende gesellschaftliche Trends in die Hände der Freiheitsbefürworter spielen. Dazu zählt er die zunehmende kulturelle Diversität der US-Gesellschaft aber auch die immer weitere Verbreitung des Internets. Beide Trends führen dazu, dass Bürokraten mit ihrem starren Regelsystem auf Widerstand stossen und öffentlich entlarvt werden. Dazu kommt, dass die Transparenz des Internet staatliche Regulierung in vielen Bereichen vollkommen überflüssig macht. Kollektive negative Kundenwertungen im Internet ziehen heute ein fehlerhaftes Produkt viel schneller aus dem Markt als es eine Überwachungsbehörde leisten kann.

Wäre Murrays Strategie auch in Europa, in Deutschland oder der Schweiz anwendbar? Sicher ist jedenfalls, dass seine Diagnose auf Europa genauso zutrifft: Liberale Kräfte sind politisch-parlamentarisch viel zu schwach, um die allmächtige Bürokratie in Europa aufzuhalten. Bezweifelt werden darf aber, dass die gezielte Missachtung von Vorschriften im obrigkeitshörigen Deutschland mit allzu grosser Sympathie in der Bevölkerung rechnen könnte. Es gibt sicher einige Bereiche, wo die Bürokratie solch offensichtlich unsinnige Blüten treibt, dass die Bürger einen Boykott unterstützen würden (man denke nur an die Vorschriften zur maximal erlaubten Krümmung von Gurken durch die EU), in der Breite wäre aber eine Unterstützungswelle eher unwahrscheinlich. Aus meiner Sicht führt kein Weg an einer langfristigen, ideologischen Auseinandersetzung mit staatsfixierten politischen Theorien vorbei, die das Bewusstsein in der Bevölkerung für den Wert liberaler Ideen schärfen. Dies kann in der lokalen Initiative für eine Privatschule geschehen oder bei den grossen wirtschaftspolitischen Fragestellungen. Die Grünen und die 68er-Bewegung hat allen vor Augen geführt, welche Ergebnisse ein langfristig und tiefgreifend angelegter Ideologiekampf erzielen kann. Die Ergebnisse von 40 Jahren ideologischer Wühlarbeit der diversen sozialen, grünen und linken Bewegungen mag uns Liberalen nicht gefallen, aber ihrer Effektivität sollten wir Respekt zollen und sie als Vorbild nehmen. Ziviler Ungehorsam gegen unsinnige staatliche Bürokratie kann in einer solch langfristig angelegten Strategie durchaus ein sinnvolles Element sein. Als alleinige Strategie wird sie nicht funktionieren.