Sonntag, 1. November 2015

Was man sieht und was man nicht sieht

"Im Bereich der Ökonomie ruft eine Handlung, eine Gewohnheit, eine Einrichtung, ein Gesetz nicht nur eine einzige Wirkung hervor sondern eine Reihe von Wirkungen. Von diesen Wirkungen ist nur die erste direkt, sie zeigt sich gleichzeitig mit ihrer Ursache, man sieht sie. Die anderen entwickeln sich erst nach und nach, man sieht sie nicht; glücklich wenn man sie vorhersieht.
Dies ist der ganze Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Ökonomen: Der eine klebt an der sichtbaren Wirkung, der andere berücksichtigt sowohl die Wirkung, die man sieht, als auch diejenige, die man vorhersehen muss." (Quelle: Frédéric Bastiat, "Was man sieht und was man nicht sieht")

 Dies ist die Essenz jeder guten Wirtschaftswissenschaft, ja jeder guten Sozialwissenschaft im allgemeinen: Sichtbar zu machen, welche Effekte eine menschliche Handlung, ein Gesetz, eine Vorschrift haben. Auch solche Effekte, die man nicht unmittelbar sieht oder bemerkt, auch solche Folgen, die erst in der Zukunft auftreten werden und auch jene Konsequenzen, die darafu beruhen, dass Dinge nicht geschehen werden.

Die zweifelhaften Methoden der WHO zur Verunglimpfung der Wurst

Wurst verursacht Krebs! So konnte man es diese Woche landauf landab lesen. Die WHO hat erklärt, dass aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse verarbeitete Fleischerzeugnisse als "karzinogen für Menschen" gelten muss. Damit stehen Würste in einer Reihe z.B. mit Tabak und Asbest als krebserzeugende Stoffe, was die Zuverlässigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse über ihre Karzinogenität betrifft.

Die WHO bezieht sich dabei auf die Arbeit der IARC (International Agency for Cancer Research), einer Unterorganisation der WHO. Im Fall der Würste sind "22 Experten aus 10 Ländern" zu den wurstkritischen  Erkenntnissen gekommen, nachdem "über 800 Studien" geprüft worden seien.

Aber was ist von dem wissenschaftlichen Vorgehen der WHO/IARC zu halten? Zuerst einmal muss man feststellen, dass es sich nicht um eigene Forschung handelt, sondern um eine so genannte Metastudie. Es wurden also hunderte von Studien aus unterschiedlichen Ländern mit unterschiedlichen Methoden gesichtet, verwurstet und dann kam man zum bahnbrechenden Erkenntnisse, dass der zusätzliche tägliche Konsum von 50 g Wurst zu einer Erhöhung des Darmkrebsrisikos um 18% führe. Eine Erhöhung des Risikos um 18% beim zusätzlichen Konsum von 350 g Wurst pro Woche ist nicht gerade die Welt. Denn wohlgemerkt heisst dies ja nicht, dass 18% der Bevölkerung zusätzlich an Darmkrebs erkranken, sondern lediglich  dass das (insgesamt geringe) Risiko an Darmkrebs zu erkranken für den einzelnen leicht ansteigt.

Dies stellt die IARC erstmal so als Behauptung in die Öffentlichkeit, denn die eigentliche Studie ist noch gar nicht einsehbar. Diese soll erst im Band 114 der IARC Monographen veröffentlicht werden. Man wird lediglich auf einen etwas ausführlicheren Artikel in der Fachzeitschrift Lancet  verwiesen, wo einige weitere Details zu finden seien. Aber auch dort findet man nicht viel mehr an Informationen. Hinsichtlich der gewählten Methode wird lediglich ausgeführt, dass

"Für die Evaluation wurde das grösste Gewicht auf prospektive Kohortenstudien gelegt, welche in der Allgemeinbevölkerung durchgeführt wurden." (übersetzt)

Im Klartext geht es also um Studien, die mittels Fragebogen über Jahre hinweg die Ernährungsgewohnheiten einer Stichprobe der Bevölkerung erheben. Es wird dann später ein statistischer Zusammenhang mit möglicherweise auftretenden Krankheiten berechnet. In diesem Fall wurde also festgestellt, dass Personen, die per Fragebogen angaben, verarbeitete Fleischprodukte verzehrt zu haben eine statistisch leicht höhere Wahrscheinlichkeit aufwiesen an Darmkrebs zu erkranken als Personen, die solche Nahrungsmittel nicht verzehrt hatten.

Was es dabei zu bedenken gilt ist:

  1. Die Studien, die miteinander in einem Topf verrührt werden, verwenden sehr unterschiedliche Studiendesigns, Stichproben, Fragestellungen und Methoden. Ein Vergleich ist zwar nicht unmöglich, aber äusserst schwierig.
  2. Es wird lediglich ein statistischer Zusammenhang hergestellt. Das ist nicht zu verwechseln mit einem ursächlichen Zusammenhang. Das Ergebnis der Studien besagt also nur, dass wer viele Wursterzeugnisse verzehrt ein gering höheres Risiko für Darmkrebs hat. Ob dies tatsächlich an der Wurst liegt oder an anderen damit einhergehenden Faktoren bleibt unklar. Es könnte ja z.B. sein, dass Wurstesser typischerweise auch stärkere Raucher sind oder mehr Alkohol trinken oder weniger Sport betreiben oder höheres Übergewicht haben etc. Man kann zwar durch statistische Analysen einen Teil dieser Faktoren wieder herausrechnen ("kontrollieren"). Es gibt aber viel zu viele solcher möglicher beeinflussender Faktoren, um wirklich sicher zu sein, denn das menschliche Ess- und Sozialverhalten ist extrem komplex und lässt sich nur äusserst schwer in statistische Gleichungen zwingen.
  3. Das Krebsrisiko könnte tatsächlich an der Wurst liegen, aber nicht unbedingt am verarbeiteten Fleisch. Es ist durchaus denkbar, dass gewisse Zusatzstoffe wie Salz oder Konservierungsmittel für den Darmkrebs kausal sind. Damit wäre aber dann nicht die Wurst an sich schuld, sondern eben z.B. ein zu hoher Salzkonsum oder Konsum an bestimmten anderen Stoffen, die eben in der Wurst sind aber auch tausendfach anderswo eingesetzt werden. Eine Warnung vor Wurstwaren macht dann auch überhaupt keinen Sinn mehr, da die Gefahr im Kern ja überall lauert. 

Der von der IARC errechnete statistische Zusammenhang ist überdies insgesamt sehr schwach. Es ist also keinesfalls vergleichbar zur Situation beim Rauchen, wo tatsächlich gezeigt werden kann, dass rund 90% der Lungenkrebsopfer auch Raucher sind oder waren.

Alles in allem bleibt der Verdacht, dass es der WHO nur darum ging einen PR-Coup zu landen und wieder einmal die Fleischkonsumenten an den Pranger zu stellen. Schliesslich passt es ja ganz wunderbar in das derzeitige Klima der Political Correctness und des Nanny States, denn den Verzehr von Fleisch zu vermindern, wenn nicht ganz zu verbieten, ist ja auf der politischen Agenda vieler gutmeinenden grün-linken Politiker.

Doch so leicht sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen: Wer tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Fleisch und Krebs beweisen will, muss deutlich bessere wissenschaftliche Studien vorlegen. Ein schwacher statistischer Zusammenhang, gerechnet mittels einer zweifelhaften Metastudie sollte niemanden vom Bratwurstgrill weglocken.