Ralph Raico: Die Partei der Freiheit: Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus. Lucius Verlag (Stuttgart), 1999.
"Bedenke das Ende!" - auf Lateinisch "Respice finem!", so warnte Ludwig Bamberger 1884 in der Debatte um die von Bismarck eingebrachten Wohlfahrtsgesetze. In einem genialen Schachzug hatte Reichskanzler Bismarck verschiedene Sozialversicherungsgesetze eingebracht, neben der Krankenversicherung auch Renten- und Unfallversicherung. Es ging Bismarck darum,
"die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte." (Otto von Bismarck)Der eiserne Kanzler hatte erkannt, dass man die Bevölkerung mit gezielten Zuwendungen und Umverteilungsmassnahmen gefügig machen konnte. Nicht die brachiale Unterdrückung der Sozialdemokratie durch die Sozialistengesetze, sondern die Bestechung durch staatliche Almosen konnten die Arbeiterschaft für den preussich dominierten, konservativen Staat Bismarcks gewinnen.
Ludwig Bamberger |
Ludwig Bamberger war einer der führenden Vertreter der Freisinnigen im Reichstag. Zusammen mit Eugen Richter war Bamberger einer der schärfsten Kritiker der staatlichen Fürsorgegesetzgebung unter Kanzler Bismarck. Mit grosser Hellsicht sagte er voraus, dass die staatliche Wohlfahrtspolitik nicht nur immer neue Ansprüche an die staatliche "Daseinsfürsorge" erzeugen würde, sondern auch die Macht der staatlichen Verwaltung über die Bürger ungemein stärken würde. In der Retrospektive sollten Bamberger und Richter auf fast unheimliche Weise Recht behalten.
Ludwig Bamberger und Eugen Richter waren zwei inzwischen fast vergessene Liberale des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Sie kämpften für die gleiche Sache, doch ihr Lebensweg hätte nicht unterschiedlicher sein können. Auf der einen Seite Bamberger, ein Jude aus Hessen, der eine glänzende Karriere im Bankgeschäft macht, nicht zuletzt an der Gründung der Deutschen Bank und der Reichsbank entscheidend beteiligt war. In jungen Jahren war er ein Revoluzzer, dessen Aktivismus in der Revolution von 1848 ihm lange Jahre im Exil und sogar ein in Abwesenheit gesprochenes (aber nie vollstrecktes) Todesurteil einbrachten.
Auf der anderen Seite Eugen Richter, der Jura und Finanzwissenschaft studierte, und anfangs in die Beamtenlaufbahn strebte. Als er zum Bürgermeister von Neuwied ernannt werden sollte, wurde dies von übergeordneten Behörden aus politischen Gründe widerrufen. Bismarck selbst bedauerte in späteren Jahren diese Entscheidung:
"Es war eine Dummheit; im Kommunaldienst war der Mann ungefährlich; und ich glaube, er wäre mit seinen rechnerischen Talenten ein vorzüglicher Bürgermeister geworden." (Harden, 1906, zitiert nach Raico, S.96)
Eugen Richter |
"machte Bismarck verantwortlich für den Kulturkampf, für die Entfesselung der Partialinteressen, für 'das Anschwellen der Steuerlasten des Reiches', für das Wachsen der sozialistischen, der antisemitischen und der Agrarbewegung, sowie dafür dass das deutsche Volk am politischen Gängelband gehalten wurde." (Raico, S. 101)Ludwig Bambergers politischer Werdegang hätte dazu nicht gegensätzlicher sein können. Nachdem er aus dem Exil zurückgekehrt war, wo er als Bänker zu beruflichem Erfolg und Wohlstand gekommen war, kandidierte Bamberger für das Zollparlament und machte sich 1868 auf den Weg nach Berlin. Bamberger diente im deutsch-französischen Krieg 1870/71 im Stab von Bismarck. Die Nationalliberale Partei verbündete sich mit Bismarck, um für die Einigung des Reichs zu werben, welche 1871 erfolgte.
In Deutschland gründete Bamberger anschliessend mit Adelbert Delbrück die Deutsche Bank, welche in den folgenden Jahrzehnten eine unglaubliche Erfolgsstory werden sollte. Entscheidend war Bamberger auch an der Gründung der Deutschen Reichsbank und der Währungsunion im Reich beteiligt. Die Zersplitterung in unterschiedliche Währungsgebiete innerhalb des 1871 geeinten Reiches erschwerte die Entwicklung der Wirtschaft aber auch des Aussenhandels.
Man konnte sagen, dass Bamberger und die Nationalliberalen eine wichtige Stütze des Bismarckschen Reichs waren. Der Traum eines geeinten Deutschlands trieb Bamberger und seine Verbündeten zur Koalition mit dem konservativen, preussichen Adligen. Doch diese Koalition sollte innerhalb weniger Jahre immer brüchiger werden. 1880 kam es zum endgültigen Bruch zwischen Bamberger und Bismarck, aber auch zwischen Bamberger und den Nationalliberalen. Anlass waren die Einführung protektionistischer Schutzzölle durch die Regierung Bismarcks, welche die Schwerindustrie und die Agrarier des Ostens auf Kosten der Arbeiterschaft und des liberalen Bürgertums belasteten. Bamberger publizierte eine Schrift mit dem Titel "Die Sezession", welche reissenden Absatz fand. Er und einige weitere Mitstreiter aus der nationalliberalen Fraktion spalteten sich ab und schlossen sich später mit der Fortschrittspartei des Eugen Richter zusammen.
Die Kritik an der Schutzzollpolitik war aber nur der oberflächliche Anlass für den Bruch. Es war Bamberger und seinen Genossen klar geworden, dass sich das Reich und seine Regierung immer stärker in eine reaktionäre und imperialistische Richtung bewegten. Persönlich betroffen war Bamberger von zunehmenden antisemitischen Anfeindungen, die Rechte und Linke zur Diffamierung jüdischer Politiker, Intellektueller und Unternehmer benutzten. Karl Marx selbst hatte schon 1859 Bamberger als "Stern Gescheit" verspottet und ihm die "Zigeunersprache der Pariser Börsensynagoge" vorgeworfen (Koehler, S.221). Bambergers Fraktionskollege Heinrich von Treitschke spielte auch eine unrühmliche Rolle in der Verbreitung antisemtischer Stereotypen. Und selbst Bismarck benutzte den Antisemitismus als rhetorische Waffe gegen Bamberger und andere liberale jüdische Politiker. Hier wurde die Saat gesät, die nur 50 Jahre später ungut aufgehen sollte.
in seinen späten Jahren wurde Ludwig Bamberger ein scharfer Kritiker Bismarcks. Er geisselte die Schutzzollpolitik, den um sich greifenden Protektionismus, die unsinnige Kolonialpolitik des Reiches und vor allem die Sozialgesetzgebung unter Bismarck. Die liberale Fortschrittspartei, die sich ab 1884 nach der Fusion mit den Sezessionisten Deutsche Freisinnige Partei nannte, kritisierte den paternalistischen Wohlfahrtsstaat auf das Schärfste. Doch die Liberalen konnten die Entwicklung nicht aufhalten, die von nun an eine unheilvolle Entwicklung zu immer mehr staatlicher Einmischung in das Privatleben von Bürgern und Wirtschaft nahm. In den 1870er Jahren hatte das Reich eine weitgehend liberale Politik verfolgt, wie auch schon viele der Einzelstaaten zuvor, die zu einem ungeheuren Wachstum des Wohlstands für Bürger und Arbeiter gleichermassen geführt hatte. Die politische Wende hin zu Nationalismus, Imperialismus und Wohlfahrtsstaat ab den 1880er Jahren ging in eine ganz andere Richtung. Die Liberalen Richter und Bamberger scheiterten daran, diesen Trend aufzuhalten, der mit der Krönung Kaiser Wilhelms II. weiter beschleunigt wurde. Weder Ludwig Bamberger (gestorben 1899) noch Eugen Richter (gestorben 1906) erlebten den Kulminationspunkt dieser verheerenden politischen Entwicklung im Ersten Weltkrieg, doch beide waren weitsichtig genug die Ereignisse vorauszuahnen. Bamberger schrieb 1897 in der Londoner New Review:
"Das Gepräge des jungen Deutschen Reiches, welches ursprünglich im Geiste der bürgerlichen Freiheit geschaffen wurde, ist nach dem ersten Jahrzehnt seines Daseins in das Gepräge eines vom Militär und Landadel beherrschten Staates umgewandelt worden, und zwischen der Aristokratie einerseits und der zunehmenden sozialistischen Propaganda andererseits steht die Bürgerklasse als ein schwacher Wall, gegen den immer mehr von diesen beiden entgegengesetzten Polen aus angedrängt wird" (L. Bamberger zitiert nach Koehler, S. 255)Richter wandte sich im selben Geist um die Jahrhundertwende fundamental gegen die Weltmachtpläne des Kaisers und seiner Regierung:
"Es geht deshalb gar nicht anders, als dass man aufhört mit der fortgesetzten Vermehrung der Soldaten, der Schiffe, der Kolonien und auch der afrikanischen Eisenbahnen. Es muss an der Stelle aller Phantasien über Weltpolitik und Weltwirtschaft und Weltreich mehr das nüchterne Einmaleins wieder zu seinem Rechte kommen." (E. Richter zit. nach Raico, S.144)Auch dieser Appell verhallte fruchtlos und die erste Katastrophe des 20. Jahrhunderts sollte bald ihren Lauf nehmen. Bamberger und Richter, zwei sehr unterschiedliche Vorkämpfer des Liberalismus in Deutschland, die doch am Ende gemeinsam gegen Bismarck, den preussischen Obrigkeitsstaat und die zunehmend protektionistische und nationalistische Politik des Reichs standen. Es war bekannt, dass sie sich persönlich nicht besonders gut leiden mochten. Politisch muss man die beiden jedoch in einem Atemzug nennen.
Es ist das Verdienst der beiden Buchbände, dass sie das Leben von Richter (im Band von Ralph Raico) und das Leben von Bamberger (bei Koehler) ins Zentrum stellen. Die Bücher sind sehr unterschiedlich geschrieben: Raico hebt mehr auf die ideologischen und theoretischen Kämpfe der damaligen Zeit ab und bettet die Biographie Richters in eine breitere Aufarbeitung liberalen Gedankenguts des 19. Jahrhunderts ein. Koehler hingegen ist mehr der Vollblutbiograph, der der die Persönlichkeit und persönlichen Beziehungen Bambergers in faszinierender Breite darstellt. Insofern sind beide Bücher ergänzend zu lesen und bilden zusammen eine harmonische Gesamtschau des deutschen Liberalismus und seiner erbitterten Feinde im 19. Jahrhundert.
Ludwig Bamberger und Eugen Richter sind heute fast vergessene Persönlichkeiten. Während die Sozialisten August Bebel, Karl Liebknecht oder Rosa Luxemburg heute noch in der Schule als aufrechte Demokraten und Gegner der chauvinistischen Reichspolitik gefeiert werden, wurden die liberalen Gegner Bismarcks und Kaiser Wilhelms zuerst verfemt und dann vergessen. Es ist die tiefe Feindschaft der meisten Geschichts- und Sozialwissenschaftler gegen den Liberalismus, der diese kollektive Amnesie zugelassen hat. Schon zu Bambergers und Richters Zeiten wurden Liberale von links und rechts mit unverhohlenem Hass bekämpft. Der Vorwurf des "Manchestertums", der "sozialen Kälte" und der Antisemitismus waren die Hauptangriffspunkte gegen das freiheitliche Gedankengut der Fortschrittler, wie man sie damals nannte. Wie heute wurden auch schon damals Liberale dafür bekämpft, dass sie die Bevormundung und Gängelung des Individuums durch den Staat ablehnten.
Gerade in der heutigen Zeit erkennen wir mehr denn je, dass staatliche Macht in allen Sphären der Gesellschaft zunimmt und individuelles Handeln immer weiter beschränkt, sei dies nun in ökonomischer Hinsicht oder ganz schlicht, wenn es um Reise- und Bewegungsfreiheit geht. Ludwig Bamberger und Eugen Richter lehren uns, dass diese Bedrohung der Freiheit nichts Neues ist. Die Tyrannei lauert hinter jeder neuen Krise und nur entschiedene Wachsamkeit und Opposition kann den Leviathan in seine Schranken weisen. Vielleicht haben Bamberger und Richter den Kampf zu ihrer Zeit nicht gewonnen, aber verloren ist er auch heute deshalb noch längst nicht.
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