Dienstag, 6. April 2021

Für eine PVI - Politiker-Verantwortungsinitiative

Am 29. November 2020 wurde in der Schweiz über die KVI (Konzernverantwortungs-Initiative) abgestimmt. Trotz einer hauchdünnen Mehrheit unter den Abstimmenden von 50.7% wurde sie letztendlich nicht angenommen, da die Mehrheit der Kantone dagegen stand (das so genannte Ständemehr). Die Initiative wollte, dass Konzerne auch für ihr Handeln im Ausland nach Schweizer Recht haftbar zu machen sind. 

Schon heute sind die Organe privatwirtschaftlicher Unternehmen wie Vorstände, Aufsichtsräte oder Verwaltungsräte einem umfangreichen persönlichen zivil- und strafrechtlichen Haftungsrisiko ausgesetzt. Dabei sind die Regeln und die Rechtsprechung von Land zu Land sehr verschieden, aber grundsätzlich kann ein Trend zur Verschärfung festgestellt werden. So verurteilte 2013 das Landgericht München beispielsweise den ehemaligen Siemens-Vorstand Neubürger zu einem Schadensersatz von 15 Millionen Euro an die Siemens AG für sein Versäumnis, ein Compliance-System aufgebaut zu haben:

"Das Landgericht München I verurteilte Herrn Neubürger zum Schadensersatz mit dem Argument, ihn treffe als Vorstandsmitglied eine Gesamtverantwortung für das Abwenden von Rechtsverstößen aus dem Unternehmen heraus. Dass er nicht unmittelbar zuständig war und dass er keine Kenntnis von den schwarzen Kassen hatte, geschweige denn deren Errichtung veranlasst hatte, konnte keine andere Sichtweise begründen. Schließlich habe er bei ersten Anzeichen für Regelverstöße veranlassen müssen, dass ein funktionierendes Compliance-Management-System eingeführt werde, gegebenenfalls durch Einwirkung auf die fachlich zuständigen Vorstandskollegen. Das habe er unterlassen und hafte daher nach § 93 II AktG der Gesellschaft für den Pflichtverstoß."

Wohlgemerkt: Herr Neubürger war in keiner Weise selbst in die Korruptionsaffäre bei Siemens verwickelt noch hatte er Kenntnis davon! Allein sein Versäumnis, solche Rechtsverstösse rechtzeitig vorherzusehen, machte ihn schadensersatzpflichtig. Man sieht also: Hochrangige Wirtschaftsführer unterstehen einem umfangreichen und möglicherweise schmerzhaften Haftungssystem. Dies ist in Deutschland so, tendenziell aber in vielen anderen Ländern ähnlich. 

Doch wie sieht es bei Politikern aus? In Deutschland stellt Art. 38 Grundgesetz die gewählten Abgeordneten von jeglichen Schadensersatzansprüchen frei. Der Jurist Carlos Gebauer bemerkt dazu:

"Mit anderen Worten: Sie (die Abgeordneten) unterliegen nicht denjenigen Sorgfaltspflichten, die sonstige Vertreter in unserer Rechtsordnung zu beachten haben. Artikel 38 des Grundgesetzes stellt Parlamentarier stattdessen von allen haftungsrechtlichen Verantwortlichkeiten für ihr Tun frei. Gewählte Volksvertreter können tun und lassen, was sie wollen: Für jeden Schaden, den sie dabei anrichten, schulden sie persönlich niemandem Ersatz."

In der Schweiz stellt Art. 146 der Bundesverfassung lapidar fest:

"Der Bund haftet für Schäden, die seine Organe in Ausübung amtlicher Tätigkeiten widerrechtlich verursachen."

Dies gilt nicht nur für die Mitglieder der Regierung, sondern findet auch Anwendung auf die Räte der Bundesversammlung (Nationalrat, Ständerat). Effektiv übernimmt also der Bund die zivilrechtliche Haftung für Schäden, die durch schuldhaftes Handeln der Organe von Legistlative oder Exekutive erfolgen. Ein Rückgriff des Bundes auf die Beamten ist möglich. Eine direkte Haftung von Politikern ist somit aber ausgeschlossen. 

Man kann also feststellen, dass in Recht und in Praxis Politiker weitgehend vor einer zivilrechtlichen Haftung abgeschirmt sind oder diese zumindest stark abgemildert ist. Doch wie sähe es aus, wenn man auf Politiker die gleichen strengen Haftungsvorschriften wie auf Manager anwenden würde? Wie wäre die Situation, wenn Politiker haftbar wären, die z.B. wissentlich und vorsätzlich falsche Tatsachen behaupten und damit bestimmte Gesetze oder Vorschriften politisch durchsetzen, die dann zu gravierenden Nachteilen für die Bürger führen? Wäre es nicht positiv, wenn insbesondere Abgeordnete die Konsequenzen ihrer Handlungen mit einem Mindestmass an Sorgfalt in alle Richtungen abklären müssen, um einer möglichen zivilrechtlichen Haftung zu entgehen? Wie ist die Situation, wenn Gesetze oder Projekte erlasssen werden, die später zu gravierenden Haushaltslücken führen, die bei normalem Ermessen vorhersehbar gewesen wären?

Die Beispiele für grob fahrlässiges Handeln von Politikern sind zahlreich. Um nur ein paar Beispiele herauszugreifen:

  • Überstürztes Handeln ohne die Konsequenzen einzukalkulieren: Das überstürzte Abschalten der Kernkraftwerke in Deutschland nach Fukushima, welches zu absehbaren, milliardenschweren Schadensersatzklagen gegen die Bundesrepublik geführt hat. Die Klagen wurden gerichtlich bestätigt. Letzlich erhielten die Energiekonzerne 2.4 Milliarden Euro an Wiedergutmachung. Eine besser durchdachte Vorgehensweise oder ein Verzicht auf die Abschaltung, hätte dem Steuerzahler diese Kosten ersparen können.

  • Grobfahrlässiges Unterschätzen von Kosten aus Projekten: Der Bau der Elbphilharmonie in Hamburg, deren Budgetierung im Haushalt der Hansestadt von Anfang an absehbar völlig unzureichend war. Am Ende lagen die Kosten mit 789 Million Euro zehnmal höher als der ursprünglich veranschlagte Etat von 77 Millionen Euro.

  • Unnötige oder unverhältnismässige Beschränkungen der bürgerlichen Freiheiten: Im Zuge der Verbreitung von Covid-19 haben viele Regierungen Gesetze und Verordnungen erlassen, die über lange Zeiträume, die persönliche und wirtschaftliche Freiheit der Bürger einschränkten. Ganze Branchen wurden über viele Monate Berufsverbote erteilt (z.B. Gastronomie, Hotelerie, Einzelhandel usw.). Es muss geprüft und bezweifelt werden, dass viele dieser Massnahmen tatsächlich geeignet oder verhältnismässig waren. Insbesondere nachdem man aus der ersten Welle der Verbreitung des Covid-19-Erregers gelernt hatte,  dass das Virus nur in sehr begrenztem Masse durch nicht-pharmazeutische Massnahmen kontrollierbar war. Zwar erhielten einige (aber längst nicht alle) der Geschädigten staatliche Ersatzleistungen. Gleichzeitig expandierte die Schuldenaufnahme der Regierungen massiv, was wiederum zukünftige Generationen von Steuerzahlern erheblich belasten wird.

Die rechtliche Gleichstellung von privaten und staatlichen Akteuren sollte prinzipiell eine Selbstverständlichkeit sein. Es war eine der wichtigen Errungenschaften der Aufklärung und der Reformen des 19. Jahrhunderts, dass die rechtlichen Privilegien der herrschenden Schichten des Adels und der Krone abgestreift wurden. So hatte der Begründer der modernen Verfassungslehre im angelsächsischen Raum, Albert V. Dicey klare Vorstellungen davon, dass die Herrschaft des Rechts es erforderlich macht, dass die Institutionen des Staates vor der normalen Gerichtsbarkeit nach regulärem Recht beurteilt werden müssen. Es muss ein "Level Playing Field" zwischen Staat und Bürger geben. 

Doch diese Grundsätze sind in Vergessenheit geraten. Politiker der Legislative wie der Exekutive müssen heute kaum persönliche Konsequenzen aus ihren fehlerhaften, oft fahrlässigen politischen Aktivitäten befürchten. Der Satz "Ich übernehme die volle politische Verantwortung für ...." bedeutet das genaue Gegenteil. Erst kürzlich erklärte Bundeskanzlerin Merkel, dass sie die volle politische Verantwortung für offensichtlich unüberlegte und schwerwiegende Fehlentscheidungen zur Einführung neuer "Ruhetage" an Osterrn übernehmen wolle. Gott sei Dank wurde diese Entscheidung zurückgezogen bevor schwerer Schaden in der Wirtschaft damit angerichtet werden konnte. Doch die "volle Verantwortung", die Politiker gerne übernehmen, hat fast nie Konsequenzen. Rücktritte erfolgen äusserst selten. Schadensersatz muss nicht geleistet werrden. Es ist eine leere Floskel. In der Realtität bedeutet sie das genaue Gegenteil des Wortsinns: Der Politiker übernimmt überhaupt keine Verantwortung. Im Englischen würde man sagen: No skin in the game. Es gibt keine negativen Konsequenzen zu befürchten, auch wenn Entscheidungen noch so fahrlässig, unbedacht oder rechtswidrig sind. 

Die Einführung einer Haftung für Politiker ist daher geboten. Ich möchte diese Initiative - in Anlehung an die Konzernverantwortungs Initiative in der Schweiz -  die Politiker-Verantwortungsinitiative (PVI) nennen. Dabei gibt es im deutschsprachigen Raum schon einige interessante Vorläufer. So hat der oben bereits zitierte deutsche Jurist Gebauer einen Vorschlag für die Änderung des Grundgesetzes Art 38 Abs. 1 ausgearbeitet:

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und sie haben bei ihrer Parlamentsarbeit die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Mandatsträgers anzuwenden. Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn der Abgeordnete bei einer politischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle des Volkes zu handeln. Abgeordnete, die ihre Pflichten verletzen, sind den Geschädigten zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet.  Ist streitig, ob sie die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Mandatsträgers angewandt haben, so trifft sie die Beweislast. Schließt der Abgeordnete eine Versicherung zur Absicherung gegen Risiken aus seiner beruflichen Tätigkeit ab, ist ein Selbstbehalt von mindestens 10 Prozent des Schadens bis mindestens zur Höhe des Eineinhalbfachen seiner festen jährlichen Abgeordnetendiäten vorzusehen. Für die Dauer seiner Zugehörigkeit zum Bundestag gilt jeder Abgeordnete als Amtsträger im staatshaftungsrechtlichen Sinne.

 Auch in Österreich gibt es eine Initiative für Politikerhaftung, die von der liberalen Partei der NEOS unterstützt wird. In der Schweiz hat der SVP-Nationalrat Lukas Reimann angeregt, Steuergeldverschwendung strafrechtlich zu verfolgen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine zivilrechtliche Haftung. Der Gesetzesvorstoss wurde später zurückgezogen. Sicherlich gibt es noch eine Reihe weiterer Initiativen, die in die gleiche Richtung zielen. Die genaue Formulierung und rechtliche Fassung einer solchen Initiative ist für jedes Land separat zu diskutieren und an den rechtlichen Rahmen anzupassen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Parlamente mit aller Kraft dagegen stemmen würden, das eigene Handeln unter mögliche Haftung zu stellen. In Ländern wie der Schweiz, die Volksinitiativen vorsehen, wäre eine Durchsetzung sicherlich einfacher möglich. 

Der stärkste Einwand gegen die persönliche Haftung von Politikern ist, dass sich niemand mehr bereit fände, politische Ämter auszuüben, wenn man ständig von Haftung bedroht wäre. Selbst wenn sich aber noch genügend Politiker fänden, würden diese notwendigerweise vor grossen Projekten mit hohen Risiken zurückschrecken und es käme so zu einer Stagnation des Staates. 

Diese Argumente sind leicht zu widerlegen. Auch in der Wirtschaft finden sich nach wie vor genügend unternehmerische Persönlichkeiten für Führungspositionen. Jedoch scheint die Qualität der Corporate Governance in den letzten Jahren zugenommen zu haben und die Manager sind gezwungen, vor den Aktionären, umfangreicher Rechenschaft abzulegen. Dass Politiker grosse und vielleicht mit unabsehbaren Konsequenzen verbundene Projekte besser prüfen und möglicherweise ablehnen, erscheint mir nicht nachteilig zu sein. Die Gefahr, dass megalomanische Projekte aus dem Ruder laufen, ist deutlich höher als das Risiko, dass man staatlicherseits zu wenige Grossprojekte plant.

Alles in allem ist die Politiker-Verantwortungsinitiative ein probates Mittel, um mehr Vernunft, mehr Augenmass und mehr Abwägung von Vor- und Nachteilen bei der politischen Planung einzubringen. Denn die Qualität von Entscheidungen verbessert sich immer dann, wenn die Entscheider "skin in the game" haben.




 


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